Zwillingsgeburt im Busch

Es war eine Freitag-Nacht. Und es gab eigentlich keinen Grund, um halb-vier Uhr aufzuwachen. Doch als ich wach war und plötzlich mein Telefon klingelte, wunderte ich mich noch mehr.
Draußen hörte ich unseren Hausmeister ums Haus gehen. Vor allem wenn ich in Bong Mine weilte, machten sich noch öfters als sonst Diebe am Haus zu schaffen, weil sie dachten, daß dann mehr zu holen wäre, wenn der Deutsche da ist.

Unser Haus im Stadtteil Old Varneystown in Bong Mines

Unser Haus im Stadtteil Old Varneystown in Bong Mines

Normalerweise schalte ich das Telefon nachts aus; wegen der Strahlung und um Strom zu sparen, denn den Akku aufladen ist auch in Bong Mine nicht ganz so einfach wie in Deutschland.
Nelson war am anderen Ende der Leitung; unser Repräsentant der Organisation. Er hatte gerade einen Anruf aus Yarbayah erhalten von Stephen, dem Screener, also „Arzt“ unserer Buschclinic dort.
Eine Frau ist ihm gebracht worden in kritischem Zustand; Gebärmutter-Vorfall!
Dies ist schon in entwickelten Gegenden ein Notfall, der allerschnellstes Handeln verlangt. Im waldigen Hinterland von Liberia bedeutet dies mit allergrößter Wahrscheinlichkeit den Tod für das Baby.
Wir versuchten es trotzdem; entgegen aller Wahrsscheinlichkeit.
Nelson gab mir den Hinweis, daß ja in der direkten Nachbarschaft zum Haus meiner Frau, in dem ich gerade wohnte, der Fahrer der Ambulanz lebt, die am Bong Mine-Hospital stationiert ist. Ihn klopfte ich aus dem Schlaf und erklärte ihm schnell den Notfall.
Die Bremsen seines Krankenwagens seien defekt, meinte er verschlafen. Ich wußte aber, daß er tags zuvor das Auto zu einer Beerdigungsfahrt benutzt hatte. So war mir klar, daß der Mann nur zu faul war; zu bequem, ein Menschenleben zu retten!

Die neue chinesische Ambulanz des BMC-Betriebskrankenhauses

Die neue chinesische Ambulanz des BMC-Betriebskrankenhauses

Ich informierte Nelson. Und tatsächlich schaffte er es, mitten in der Nacht einen Freund in seiner Nachbarschaft zu überreden, sich in dessen Auto zu setzen und mit uns diese weite Fahrt in den Busch zur Yarbayah-Clinic zu wagen.
Doch als Nelson mit dem Fahrer des Wagens eintraf, war es damit noch nicht getan: erst brauchten wir Benzin.
In Liberia fahren die Leute immer mit dem Tank am untersten Limit. Man kauft nur genau so viel Benzin, wie man gerade für die anstehende Fahrt braucht und das Geld dafür wird oft noch vom Fahrgast im Voraus erbeten, um den Sprit erstehen zu können. Daß das bedingt, daß oft Dreck die Benzinleitungen verstopft oder – noch öfter – falsch kalkuliert wurde und man mitten im Busch liegen bleibt, ist dann ganz logisch.
Nun gibt es keine Tankstelle in Bong Mines. Und nachts um 4 Uhr sowieso schon verängstigte Bürger aus dem Schlaf zu klopfen, ist gar nicht einfach. Wir schafften es und kriegten zwei Gallonen extrem verteuertes Benzin; der Tribut an die Nacht und der sogen. „white-man-price“.

Tanken in Bong Mines

Tanken in Bong Mines

So rasten wir wenig später durch den dunklen Busch Richtung Yarbayah. Stephen konnten wir nicht mehr anrufen und fragen, wie der Zustand der Frau oder des Kindes war, denn Yarbayah liegt so weit von jedem Handy-Antennenmast entfernt, daß man nur auf einem bestimmten Hügel etwas außerhalb der Ortschaft schwache Netzabdeckung hat.

Die Strasse nach Yarbayah

Die Strasse nach Yarbayah

Die Strassen im Hinterland Liberias sind schon am Tag ein Abenteuer. Nachts mit nur einem miserablen Scheinwerfer am Auto, über viel zu viele Brücken, die nur Baumstämme waren, da kommen zwangsläufig während der dreiviertel Stunde im Fond Gedanken an all die Unfälle, die man die Jahre gesehen hat.

Alltag auf den Strassen im liberianischen Busch

Alltag auf den Strassen im liberianischen Busch

Als wir voll gepumpt mit Adrenalin von der verrückten Raserei über Stock und Stein in Yarbayah ankamen, stand ein kleine Gruppe vornehmlich Frauen vor dem kleinen Hebammen-Häuschen. Sie beteten, diskutierten oder lamentierten laut.

Fatu, die Hebamme, kommt aus ihrem Midwife-Room

Fatu, die Hebamme, kommt aus ihrem Midwife-Room

Im Midwife-Haus war es sehr dunkel. Fatu, unsere erfahrene Hebamme und Stephen, der Screener der Clinic, waren die einzigen, die Lampen dabei hatten. Die Mutter lag seltsamerweise nicht in dem großen Bett, sondern auf einem am Boden ausgebreiteten Lappa.
Und davor, zwischen ihren ausgebreiteten Beinen in einer Blutlache, ein winziges blaues Baby; – tot!
Mich drückte es am Kehlkopf, doch ich sah auch in der gespenstischen Szenerie mit der aufgeregt schnaufenden Mutter am Fußboden, daß ihr Bauch nicht der einer gerade entbundenen war. Ich nahm mein Stethoskop und horchte. Zur Sicherheit ließ ich noch Fatu mit ihrem Fetoscope an der erhabenen Stelle am Bauch der Mutter lauschen und tatsächlich; – da war noch ein Kind im Leib der Frau! Zwillinge- und das Geschwisterchen lebte sogar noch!

Die Hebamme Fatu in Yarbayah bei einer Untersuchung

Die Hebamme Fatu in Yarbayah bei einer Untersuchung

Nun wurden wir alle ganz extrem hektisch: die Gebärmutter lag ja schon heraußen vor der Scheide der Mutter. Daß das Kind im Bauch also noch Sauerstoff bekam nach so langer Zeit, grenzte an ein Wunder. Nun hieß es also, es so schnell als möglich heraus zu bekommen. In Deutschland oder woanders bereitet man in einem solchen Fall für einen Kaiserschnitt vor. Hier, tief im Busch von Liberia, ist das nicht einmal eine andenkbare Option.
Eine Infusion war schon von Stephen gelegt gewesen, so daß wir der Mutter die Flüssigkeit und Mineralien, die sie nun durch Schwitzen etc. verlor, wieder ersetzen konnten. Den Midwife-Room möchte ich immer als den am besten ausgestattetsten Platz der ganzen Clinic wissen.

Stephen Momo, unser grossartiger Screener in der Yarbayah-Clinic

Stephen Momo, unser grossartiger Screener in der Yarbayah-Clinic

Wir arbeiteten wie die Wilden: drückten den Bauch, orderten der Mutter, wie sie zu pressen und atmen hatte, injizierten ein Wehenförderungsmittel, quetschten und zogen schließlich, als ein Arm zum Vorschein kam.
Und dann, – dann war es da! Ganz winzig klein und verschmiert!
Fatu saugte mit ihren Schläuchen das Fruchtwasser aus den Atemwegen des Winzlings und dann tat es den ersten Schrei!
Sie wickelte das Baby in ein sauberes Tuch und deutete mir an, was ich jetzt zu tun hatte.
Als ich so, mit einem gerade neugeborenen Menschenkind in meinen Armen, vor die Frauenschar um das Haus trat, schämte ich mich nicht der Tränen, die mir einfach so herunter liefen. Die Verwandtschaft schrie, hüpfte und begann zu tanzen und singen vor Glück!
Ich brachte das Mädchen, das es war, wieder zurück in den heissen Hebammen-Raum, wo alle nicht nur von der Hitze Liberias verschwitzt aufräumten. Die Mutter nahm das Kind in ihre Arme und brachte ein Lächeln hervor, wie es schöner nicht hätte sein können.
Ich drehte mich um und ging aus dem Haus. Ein paar Hundert Meter in den Urwald hinein, der gleich dahinter begann, kniete ich mich nieder und betete. Ich dankte Gott für seine Hilfe, die Kraft, die er mir und uns allen gegeben hatte, Anderen helfen zu können.
Die Rückfahrt im aufkommenden Morgengrauen war ruhig und wunderschön.

Das Hebammen-Häuschen an der Yarbayah-Clinic

Das Hebammen-Häuschen an der Yarbayah-Clinic

Am nächsten Behandlungstag, den wir wie immer in Yarbayah donnerstags durchführen, kam die Mutter stolz mit ihrem neuen Familienmitglied. Sie hatte dem Jungen den Namen „Thomas“ gegeben. Die ganze Gemeinde wollte ihn sehen und so hatten wir, zwischen all den Kranken, die warteten, etwas, was Freude und Glanz mit hinein brachte.

Das neugeborene Baby zu Besuch am Behandlungstag wenige Tage später

Das neugeborene Baby zu Besuch am Behandlungstag wenige Tage später

Dies war eine von etlichen Gelegenheiten zur Geburtshilfe, die mir unauslöschlich im Gedächtnis bleiben werden.

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